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Prolog

 

„[…] nature here is violent base, I wouldn’t see anything erotical here, I would see fornication and asphyxiation and choking and fighting for survival and growing and just rotting away. Of course there is a lot of misery but it is the same misery that is all around us. The trees are in misery, the birds are in misery – I don’t think they sing, they just screech in pain. It’s an unfinished country, it’s still prehistorical. […] It’s like a curse laying on the entire landscape and who ever goes too deep into this has his share of that curse. So we are cursed with what we are doing here. […] Taking a close look at what’s around us: there is some sort of a harmony, it is the harmony of overwhelming and collective murder. And we in comparison to the articulate violence, and baseness and obscenity of all this jungle, we in comparison to that enormous articulation, we only sound and look like badly pronounced and half finished sentences out of a stupid suburban novel, a cheap novel. And we have to become humble in front of this overwhelming misery and overwhelming fornication and overwhelming growth and overwhelming lack of order. Even the stars up here in the sky look like a mess. There is no harmony in the universe. […] But when I say this, I say this all full of admiration for the jungle. It is not that I hate it. I love it, I love it very much but I love it against my better judgement.“[1]

 

Werner Herzog offenbart hier Gedanken und Empfindungen, die während der Dreharbeiten des Films Fitzcarraldo im peruanischen Dschungel in ihm aufkamen. In seinen späteren Werken, die sich mit Natur und Mensch beschäftigen, wird der Filmemacher von einer monumentalen Gleichgültigkeit[2] sprechen, die der Natur eigen sei. Vielleicht liegt hierin der größte Unterschied zwischen ihr und dem Menschen. Denn der kommt nicht umhin, verstehen zu wollen – auch, wenn er dabei vieles falsch oder überhaupt nicht versteht – und Fragen zu stellen – auch, wenn es die falschen sind oder er die Antworten missversteht. Denn als Mensch will er Zusammenhänge knüpfen, einen Rahmen herstellen, der dem erschreckenden Anblick des Chaos entgegenwirkt und seine Furcht kontrollierbar macht, er sich vorbereiten und schützen kann vor dem, was auch immer kommen mag. Und weil dem Menschen so wenig eindeutig erscheint, sein Blick sich aufspaltet und nicht klar ist (denn er weiß ja, dass er nicht[s] weiß), muss er zweifeln, muss er zaudern, muss er zögern, da seine Wahl Konsequenzen hat, die ihm nicht gleichgültig sein dürfen, wenn er überleben möchte. Gleichgültigkeit meint, dass nichts einen höheren Wert hat als etwas anderes. Alles gilt gleich viel, gleich gut, gleich schlecht, somit besitzt nichts einen Wert, denn Wert erzeugt Unterschiede und somit Gültigkeit(en). Die Natur scheint eine unaufhörliche Bewegung aus allem auf einmal zu sein, eine sich langsam und zäh ausdehnende, zugleich schnell und plötzlich zusammenziehende Materie, die glänzt und stumpf ist, biegsam und monolithisch, gefriert und brennt. Die Natur hält nicht inne, sie überlegt nicht, in ihr kulminieren Zerstörung und Heilung, Kampf und Flucht, Sterben und Geburt, Ursprung und Fremde, Angst und Hoffnung. Wie kann dieser Eindruck ein menschliches Wesen, das verletzbar und sterblich ist, nicht überwältigen? Ein Wesen, das gerade so viel erkennt, dass sein Gehirn Fragen aufwirft, aber nicht so viel begreift, dass es auch Antworten darauf hätte. Für den Menschen ist es unvermeidbar, sich nicht vorzustellen, was es mit der Natur und seinem Platz in ihr auf sich hat. Die Vorstellung der Bedeutungslosigkeit, der indifferenten Natur ist schmerzhaft und nur schwer vorstellbar. Der Umgang mit der Natur, die Geschichten, die man sich über die Jahrtausende über sie erzählte und noch erzählt, die falschen Erkenntnisse, auf die man sich stützte und die neu gewonnenen Erkenntnisse, auf die man sich heute verlässt – es gibt unzählige Erzählungen und Erklärungen, die so unterschiedlich sind, dass man eigentlich nicht von der Natur sprechen müsste, sondern von den Naturen. Herzogs Vorstellung von der monumental gleichgültigen Natur ist eine Möglichkeit, die allerdings weder bewiesen werden kann noch universell ist. Denn auch in der Gleichgültigkeit liegt eine Wertung, versteckt sich der Versuch, die Natur zu charakterisieren. Einer Sache einen Namen zu geben, läuft zwangsläufig auf eine Verfehlung hinaus. Der Irrtum ist unvermeidlich, weil jede Annäherung uns dem Verstehen, somit einer möglichen Erklärung, wie die Welt und unsere Existenz funktionieren, näher bringt – getreu dem Motto: besser als nix. Unsere Worte, unsere Sprachen sind nicht die Welt, sie erinnern nur an sie, haben sich als Welt verkleidet.

 

 

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In den Ländern des Sahels spricht man den Bäumen menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zu. Besonders alte Bäume werden mit größtem Respekt behandelt, wie auch die älteren Mitglieder in der Familie. Um die Bäume sanftmütig zu halten und ihren üblen Launen vorzubeugen, bringt man ihnen Opfer dar und kleidet sie regelmäßig in frische Gewänder aus weißen Bändern. Verärgert man sie durch sein Handeln, werden die hölzernen Riesen wütend und können den Dorfbewohnern Schaden zufügen. Zum Beispiel kommen sie dann als Menschen verkleidet ins Dorf, bandeln mit Frauen an und haben Sex mit ihnen, was Scheinschwangerschaften oder Krankheiten verursachen kann. Wie der Mensch auch, sind Bäume auf der Suche nach Liebe und Anerkennung. Dabei handeln sie gelegentlich irrational, fühlen sich verletzt, weil sie eine Geste missverstehen oder Gefühle der Zuneigung nicht erwidert werden. Es muss keinen triftigen Grund geben, damit sie nachts losziehen und Nahrungsmittel verderben oder auf diese spucken. Wenn ein Mensch hier durch den Sturz von einem Baum stirbt, wird für ihn keine ordnungsgemäße Bestattung abgehalten, denn diese Todesart zählt zu den Schlimmsten überhaupt.[3] Der Tote ist vielleicht nicht einfach unglücklich herabgestürzt, sondern hat den Baum womöglich durch unüberlegtes Verhalten dazu gebracht, sich gegen den Störenfried in der Krone zu wehren.

 

 

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Klimakrise bedroht Lebensraum Ozean // Südasien-Katastrophe – Massengräber für die Opfer der Tsunamis // Amazonas-Urwald wird für Soja-Plantagen und Viehzucht gerodet // Erdbeben in Italien – »Es ist eine apokalyptische Situation« // Plastik in Fisch und Meeresfrüchten // Unwetter fordert fast 80 Tote – Zyklon hinterlässt Chaos in Madagaskar // Hambacher Forst: Kampf um einen sterbenden Wald // Mikroplastik und Chemikalien in der Antarktis // Ebola-Epidemie: WHO bezeichnet Ebola als globale Krise // Sterben die Bienen aus, sterben auch Menschen // Immer mehr tödliche Hitzewellen weltweit // Keime außer Kontrolle – Nährstoffe und antibiotikaresistente Bakterien in Gewässern in Deutschland // Ozeane versinken im Plastikmüll // Abschussliste für 227 Meeressäuger – Nach 31 Jahren jagt Japan offiziell wieder Wale // Fracking erhöht Erdbeben-Gefahr // COVID-19 – eine Naturkatastrophe in Zeitlupe

 

 

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Natur ist ein historisch und kulturell variabler Begriff. Die uns bekannte Bedeutung ist weder universell gültig noch meint sie etwas Bestimmtes. In vielen Zeiten und Kulturen gab und gibt es das Wort Natur nicht einmal.

 

 

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In der Umweltethik werden verschiedene Perspektiven formuliert, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu fassen versuchen. Man nennt sie physiozentrische Konzepte. Hierfür kann man sich vier Kreise vorstellen. Der kleinste umschließt nichts als sich selbst. Der zweite liegt um diesen herum, der dritte umfasst wiederum diese beiden Kreise und der letzte und größte Kreis schließlich alle drei Kreise in sich ein. Der erste Kreis beinhaltet den Anthropozentrismus, ein Prinzip, nach welchem alles außerhalb des Menschen nur einen Wert hat, weil es überhaupt erst durch den Menschen nutzbar gemacht werden kann; demnach besitzt die Natur an sich keinen Wert und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Diese Sichtweise kann sowohl umweltschädlichen als auch umweltunterstützende Maßnahmen zugrunde liegen, sofern Handlungen dazu dienen, dem Menschen das Leben auf der Erde zu erleichtern oder es zumindest weiterhin zu ermöglichen. Genau darin besteht die argumentative Schwierigkeit, insbesondere dann, wenn nicht eindeutig geklärt werden kann, aus welcher Entscheidung nun der größere Nutzen für den Menschen erwachsen mag. Ist der Sauerstoff, den ein bestimmtes Waldgebiet produziert, entscheidender oder das neue Medikament, für dessen Herstellung dieses Ökosystem gerodet werden soll? In der Pathozentrik – dem zweiten Kreis, der den ersten umschließt – befinden sich Tiere auf der gleichen Stufe wie der Mensch, da sie ebenso imstande sind, Leid zu empfinden. Ein Mensch, der versucht, sein Leben möglichst leidfrei zu gestalten, zeichnet sich ebenso dafür verantwortlich, den Tieren kein Leid zuzufügen. Wie ist aus dieser Perspektive jenes Leid einzuordnen, das Tiere sich gegenseitig zufügen? Muss und darf der Mensch in letzter Konsequenz auch hier eingreifen? Im dritten Kreis operiert der Biozentrismus; diesem Prinzip zufolge, befindet sich der Mensch in der Verantwortung jeder Lebensform gegenüber – ob sie Schmerzen empfinden kann oder nicht. Ein berühmter Vertreter war Albert Schweitzer, der an eine respektvolle und ehrfürchtige Begegnung zwischen Mensch und (Um-)Welt appellierte. Wie sieht eine Moral aus, die sich aus diesem Weltbild speist? Sind moralisch einwandfreie Entscheidungen und Handlungen so überhaupt noch möglich? Die umfassendste und letzte Stufe in der Umweltethik bildet der Holismus, der vierte Kreis, der alle anderen Kreise umschließt. Wie der Biozentrismus schreibt er sowohl der belebten als auch der unbelebten Materie einen eigenen Wert zu und sieht dabei jedoch den Menschen nicht mehr als Zentrum, sondern als Fragment in der Welt, das keinen größeren Stellenwert einnimmt als jedes andere Lebewesen oder ein herabfallendes Blatt, ein Windstoß oder eine Handvoll Erde. Bei allen nicht anthropozentrischen Perspektiven bleibt die Frage, inwiefern der Mensch überhaupt in der Lage sein kann, nicht anthropozentrisch die Welt zu betrachten? Also seine menschliche Perspektive zu verlassen? Und ob nicht, sobald er dies versucht, eine verlässliche Fundamentierung seiner gewonnenen Erkenntnis ratsam sein kann und sich allgemeingültig übertragen ließe. Wie kann der Mensch den Blick aus sich selbst heraus vermeiden? Wie kann er der anthropozentrischen Perspektive entkommen, die Welt nicht als Mensch wahrnehmen?[4]

 

 

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Dem Japanischen Shintōismus zufolge gelten alle belebten und unbelebten Dinge und Erscheinungen in der Welt als beseelt. Und zwar von kami, kleinen unsichtbaren anbetungswürdigen Wesenheiten.[5] Das Sichtbare, also das Blatt, der Stein, das Schwert, die Schneeflocke, das Holzbrett oder der Kreisel sind Manifestationen der Gottheit.[6] Kami kann man sich wie kleine Feen oder Geister vorstellen, die in alles hineinfahren, was ihnen begegnet – und das tun sie, denn es gibt sie überall und in unzähligen Scharen. Aus dieser Überzeugung entsteht ein universeller Respekt schlichtweg allem gegenüber.

 

 

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Epilog

 

Ganz gleich, von welchem Punkt aus wir die Natur(en) auch betrachten, ganz gleich, was wir ahnen, glauben zu wissen oder erfahren haben: es bleibt eine Betrachtung, der eine unauflösbare Ambivalenz innewohnt. In unseren Augen spiegeln sich Gleichzeitigkeiten von Schutz und Bedrohung, Vertrautheit und Fremde, Leben und Tod – über allem ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, das alles wild ineinanderfließen lässt, bis wir das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden können. Schließlich befinden wir uns mitten in einer Allheit, für die wir keine Worte mehr finden. Und immer macht der Mensch etwas aus dieser Natur, diesen Naturen: Geisterwesen, Gott und Götter, eine Schöpfung, einen wissenschaftlichen Forschungsgegenstand, eine Sphäre der Erkenntnis und Spiritualität, das Paradies und die Hölle und noch viel mehr. Wir kommen nicht umhin, uns mit der Natur verbunden zu fühlen, mit ihr verbunden sein zu wollen. Zugleich unterscheiden wir uns von ihr. Die Natur als das Andere, als das, was uns abstößt, als das, was wir verlassen haben, aus dem wir herausgetreten sind, uns stetig herauslösen und -schälen, gibt uns Aufschluss darüber – zumindest eine vage Ahnung –, wer oder was wir in diesem Universum sind, was wir wissen und tun wollen, können und müssen. Es bedeutet den Ursprung unserer Wünsche, Bedürfnisse und unserer Pflichten. Hieraus entsteht unser Bild von uns selbst und das Bild von der Welt, eine Landkarte, die nicht immer zuverlässig ist, aber dennoch Wege für uns bereithält, Möglichkeiten.

 



[1] Blank, Les: Burden Of Dreams, 1982.
[2] Herzog, Werner über „Into the Inferno“ in: Interviews | Roger Ebert
[3] Vgl. Luig, Ute (Hg.), von Oppen, Achim (Hg.): „Naturaneignung in Afrika als sozialer und symbolischer Prozeß“, S. 7-8. Berlin 1995.
[4] Begründungsformen einer Umweltethik, treffpunkt-umweltethik.de, 2018.
[5] Verfürth, Marc J.: „Shintô – Die einheimische Religion Japans“, japanlink.de, 2000.
[6] Ebd.

 

Bild: Petra Geiser.

Foto: Paul Trienekens.